Eine Begegnung mit den filmischen und fotografischen Arbeiten von Franziska von Stenglin.
Was ist Zukunft?
Was ist die Zukunft? Ästhetisch jedenfalls ist sie eine Fiktion in zwei Richtungen. Wir prognostizieren und wir malen uns aus, wie die Zivilisation der Zukunft aussehen wird, oder aussehen soll, und dann bauen wir Zukunft nach unseren Vorstellungen, die selten eintreffen. Zukunft ist immer die Zukunft ihrer Gegenwart
In Kreuzberg stehen heute die gebauten Zeugnisse einer Zukunft, die längst vergangen ist. Vom Kottbusser Tor bis zur Haltestelle Prinzenstraße wuchsen bis in die 1970er Jahre riesige Wohnkomplexe heran, entworfen nach den Plänen von Stadtplanern und Architekten wie dem jüngst mit großer Ausstellung gefeierten Werner Düttmann. Es waren die Träume einer Nachkriegsmoderne und Nach-Nachkriegsmoderne, die in Kreuzberg mit hochverdichteten Hochhäusern neuen Platz schaffen wollte: für Menschen und Licht und für Grünflächen und die zum Glück nie gebaute Bundesautobahn 106, die als sogenannte Südtangente eine automobile Schneise durch das alte Viertel schlagen sollte.
Die Künstlerin Franziska von Stenglin lebt in einem dieser Gebäude. Ihre Medien sind Fotografie und Film. Geboren 1984 in München, studierte Stenglin in London und schloss 2013 an der Frankfurter Städelschule ab, als Meisterschülerin in der Klasse von Simon Starling. Wer Stenglin von der vielbefahrenen Gitschiner Straße her besuchen kommt, muss durch Lärm und Verkehr und unter den Gleisen der Hochbahn hindurch. Es ist ein heißer Vormittag im Juli. Müll und Hitze und Feinstaub-Level fühlen sich jetzt plötzlich an wie Vorbereitung, wie Initiation für The Dust of Modern Life, Stenglins neuen Film, der im Sommer beim Filmfestival von Marseille Premiere feierte.
Eine Reise fort aus der Gemengelage namens Zivilisation
Tatsächlich erzählt Pa Va Heng – The Dust of Modern Life von einer spirituellen Reise. Nicht in Berlin sondern in Südostasien, im Hochland von Vietnam. Wir folgen einem jungen Mann namens Liem, Angehöriger der Minderheit der Sedang, und seinen Begleitern auf einer mehrtägigen Wanderung durch den Dschungel. Es ist eine Reise fort aus der Gemengelage namens Zivilisation. Das Ziel ist die rituelle Reinigung vom Alltagsleben in der Dorfgemeinschaft durch Rückkehr in die verlorene Lebensweise der Vorfahren.
Ich frage Stenglin, ob sie Vietnamesisch spricht.
„Nein“, lacht sie und korrigiert zugleich sanft die falsche Frage, weil nämlich die Sedang nicht Vietnamesisch sprechen, sondern eben Sedang, eine eigenständige Sprache, gesprochen von rund Hunderttausend Menschen im zentralen Hochland von Vietnam. Während des Drehs im November 2017 übersetzen vietnamesische Crew-Mitglieder so gut es geht Stenglins Regieanweisungen. Zurück in Berlin wird die Audiospur des Films nachträglich und mit großem Aufwand übersetzt. „Ein unglaublicher Pain“, sagt Stenglin. Am Set jedoch, erzählt sie, führten diese Schwierigkeiten in der verbalen Kommunikation zu einer sonderbaren Schärfung aller übrigen Sinne: „Es geht in dieser Situation darum, ein Gespür für die spezifische Qualität des Moments zu entwickeln, für die Stimmung, eine andere Offenheit.“
Diese Offenheit für das völlig Andere und Eigentümlich einer Erfahrung, sagt Stenglin, ist zugleich eines, wahrscheinlich sogar das zentrale Anliegen ihres Films. Konsequenterweise ist The Dust of Modern Life deshalb weder Spielfilm in irgendeinem konventionellen Sinn, noch Dokumentation in dokumentarischer Absicht. Stenglins Ziel war nicht in erster Linie, ein Ritual filmisch zu bewahren, das in seinem Fortbestand bedroht ist – paradoxerweise nicht nur durch die Kautschukplantagen chinesischer Investoren, sondern auch durch die moderne Existenz der Sedang selbst, deren Brandrodung für den Nahrungsanbau den Dschungel als Rückzugsort immer weiter schrumpfen lassen.
Tatsächlich führt uns der Film in ein eigentümliches Zwischenreich von Inszenierung und Dokumentation. „Wo dieses Verhältnis auf der Kippe steht“, sagt Stenglin „da passieren für mich im Moment die spannendsten Filme.“ Einerseits sind Darsteller Liem und seine Begleiter eben das: Darsteller, die Stenglin für The Dust of Modern Life gecastet hat. Andererseits begeben sie sich als Angehörige der Sedang ganz real auf die Reise ihrer Vorfahren. Eine Reise, die zudem wie jedes Ritual immer schon Rollenspiel war. Die Rückkehr in eine mystische Vorvergangenheit: ein Ausgang aus der Zeit auf Zeit.
Das Andere der Zivilisation
Was Stenglin mit ihrem Film erfahrbar machen will, ist diese Erfahrung selbst. Dem Film in die Tiefe des Waldes zu folgen, heißt Rückzug auch für den Zuschauer, heißt, an der alltagsreinigenden Wirkung des Rituals teilzuhaben, den Staub abzuwaschen. Stenglin steigert diese immersive Wirkung des Films bewusst durch formale Entscheidungen. Sie filmt analog im 16mm-Format, die Farben sind satt und tief. Mit dem Aufbruch aus der Zivilisation in den Dschungel ändert sich auch die Tonkulisse des Films. Der Lärm der Mopeds und Kettensägen, das Scheppern der Handymusik, die Lautsprecher auf dem Dorfplatz, die die Radiobotschaften des modernen Vietnam zwischen Weltlage, Konsum, und ideologischer Ertüchtigung verkünden – das alles verstummt und weicht den Geräuschen der Biosphäre, dem Rufen der Vögel unter dem Blätterdach. Die Kulmination dieser spirituelle Reise vollzieht sich in einer leicht halluzinogen anmutenden Szene, als Liem nachts, im Schein der Stirnlampe, auf Froschjagd geht, und man eine Art Einklang zwischen des Dschungels und Liems vegetativen Nervensystem zu spüren vermeint, ein Crescendo nächtlicher Tierlaute, gefolgt von der absoluten Stille des nächsten Morgens.
Dramaturgisch steht die Sequenz wie ein Gegenpol zu einer minutenlange Collage am Beginn des Films. Hier sind es Archivaufnahmen, die düstern und dräuend die realistische Bildebene überlagern, Progpagandamaterial des Vietcong, im Dschungel gefilmt und entwickelt. Grobkörnige Bilder von dunklen Bombern am schwarzweißen Himmel, untermalt mit folkloristischen Liedern über die fleißige Hände der Frauen, die Bambusrohr um Bambusrohr anspitzen, Todesfallen für fehltretende amerikanische GIs. Der Ho Chi Minh-Pfad verlief durch das Bergland der Sedang und der Vietnamkrieg ist keineswegs vergessen, die Barbarei des Krieges als das andere große Andere der Zivilisation ein untergründiges Motiv des Films.
Die Artefakte menschlicher Kultur
Überhaupt fügt sich dieser Film über ein Ritual der Auszeit in ein wachsendes künstlerisches Werk Stenglins, dessen Interesse dezidiert der Historie und Zeitlichkeit als solcher gilt, ihrer Spuren und Bewahrung in den Artefakten menschlicher Kultur. Stenglin reist viel und ausdauernd, schon als Kind zog sie mit ihrer Familie – der Vater war Diplomat – alle paar Jahre in ein neues Land. Seit 2012 etwa macht Stenglin auf ihren Reisen überall auf der Welt Aufnahmen von den Fotos an den Wänden von Bars und alten Cafés und Corner-Shops „Meistens“, sagt Stenglin bei unserem Gespräch, „zeigen diese Fotos ganz unspektakulär eben das, was in den Geschäften verkauft wird, oder die Gründerfamilie von dem Laden, oder den Berg, der da daneben steht.“
Die Bilder der über Jahre entstandene Serie Johnny’s Bar konserviert Stenglin mit einer Methode, die ihr in Mexiko begegnet ist und die sie den Alptraum jedes Foto-Konservators nennt: die Fotografien werden auf einfachsten Sperrholzrahmen mit flüssigem Peroxid übergossen und so haltbar gemacht. „Das kannst du danach in die fettigste Küche hängen“, lacht Stenglin, „völlig egal, weil abwaschbar.“ Stenglin fotografiert diese oft wie kleine Hausaltäre gehängten Fotografien, weil sie sich für die Rolle von Bildern im Raum interessiert, die soziale Funktion dieser Fotos als demokratisches Gebrauchsmedium. Es geht ihr nicht nur um die Fotografien selbst, sondern auch darum, wie Menschen sie benützen, wie sich Menschen die Bilder zu eigen machen. Später, es ist Mittag geworden, sitzen Stenglin und ich im Schneidersitz auf dem Betonestrich und essen eine Pasta, die sie in gefühlten zwei Minuten gemacht hat, wie Stenglin überhaupt eine extrem lässige Gastgeberin ist. Draußen durch die offene Tür zum Balkon: das Grün des Böcklerparks und einer der heißesten Tage des Jahres. An der Wand lehnt ein Bild aus der Johnny’s Bar-Serie. „Das war in Österreich, als ich eine Residency gemacht habe, am Millstädter See in Kärnten. Da hingen Fotoportraits von den ehemaligen Besitzern in der Tür von dem Café, das gerade zugemacht hatte.“ Ich nicke und wir essen unsere Spaghetti. Meinerseits die Frage, ob dieser anthropologische Blick ein wiederkehrendes Moment ihres Werks ist? Stenglin zögert. „Wahrscheinlich schon“, sagt sie. „Man könnte das aber auch einfach nennen“, fügt sie nach einer Pause hinzu, „Interesse am Menschsein.“
Franziska von Stenglin
Franziska von Stenglin (geb.1984 in München) wuchs in der Tschechischen Republik, im Senegal, in Indien und Deutschland auf. Sie studierte Fotografie in London und Kunst an der Städelschule in Frankfurt/Main. Als Künstlerin verknüpft sie in ihren Projekten Aspekte ihrer eigenen Biografie mit lokalen Mythen und Geschichten. Ihre Installationen basieren oft auf metaphorischen Fotografien und filmischen Arbeiten. Stenglin bezieht dabei den gesamten Ausstellungsraum mit ein und entwirft Erzählungen von alltäglichen Orten, Menschen und ihren Geschichten, denen sie auf ihren Reisen begegnet. Auf ihren 2016 erschienenen Kurzfilm I'm A Stranger Here Myself folgt der Langfilm Pa Va Heng (The Dust Of Modern Life), ihr erster Langfilm. Der Dokumentarfilm feierte im Juli 2021 auf dem Internationalen Film Festival Marseille im Wettbewerb seine Weltpremiere, die Deutschlandpremiere folgte Ende Oktober 2021 auf dem Dok Leipzig Festival.